Auf dem Weg zu einer neuen Remote Work-Strategie

Homeoffice mit Schwierigkeiten, wachsende Pendlerströme und neue Arbeitshaltungen erfordern ein Umdenken in Politik und Wirtschaft – Handlungs- und Forschungsbedarf

Die konzentierte ruhige Arbeitsatmosphäre im Coworking Space wird von vielen Teilnehmer*innen sehr geschätzt. Foto: FIAP e.V.

Wenn die Beschäftigten mehr Freiheiten bei der Wahl ihres Arbeitsplatzes haben, wäre dies – angesichts tendenziell wachsender Staus durch Pendlerströme – nicht nur ein Beitrag zu mehr Lebensqualität sondern auch zum Klimaschutz. Neueste Studien aus 18 Monaten Pandemie zeigen, dass über 50 Prozent der Beschäftigten in Deutschland mittlerweile nicht mehr auf einen festen Arbeitsplatz angewiesen sind.[1] Schon zwei Tage Remote Work pro Woche würden 36 Milliarden Pendelkilometer und 5,4 Mio. Tonnen CO2 pro Jahr einsparen.[2] Und: Gerade junge Menschen hinterfragen herkömmliche Konzepte der Work-Life-Balance. Dennoch fehlt in fast allen Unternehmen derzeit eine dezidierte Remote Work-Strategie, die das „Change of Mindset“ in Richtung New Work aufgreift, ortsunabhängiges Arbeiten sichert und gleichzeitig Homeoffice-Nachteile vermeidet. Das Forschungsinstitut für innovative Arbeitsgestaltung und Prävention (FIAP e.V.) hat zum Abschluss des Forschungsprojekts CoWin nun in einer Onlinekonferenz „Arbeitsmobilität 2.0“ gemeinsam mit  dem Bundesverband Coworking Spaces e.V. (BVCS) aktuelle Veränderungsbedarfe in Unternehmen zusammengetragen und gefragt, welche Rahmenbedingungen und Forschungsbedarfe für eine zukunftsorientierte Handlungsstrategie Remote Work bestehen. In dem auf zwei Jahre angelegten Feldexperiment CoWin, das vom NRW-Wirtschaftsministerium im Förderprogramm UMBAU 21 gefördert wurde, wurden neue wohnortnahe Formate der Zusammenarbeit mit Berufspendlern außerhalb des Homeoffice aus verschiedenen Unternehmen erprobt und wissenschaftlich begleitet.

Die Arbeit im Homeoffice, die etwa 49 Prozent der Arbeitnehmer*innen in Deutschland in der Pandemie zeitweise selbst ausprobiert haben[3], stellt – so die Einschätzung der Experten – mehr Pandemie-bedingte Notlösung denn Standardantwort für die Zukunft der Arbeit dar. Probleme der Ergonomie am Arbeitsplatz, soziale Isolation, unzureichende Technik und Internetanbindung, Fragen des Datenschutzes, rechtliche Unklarheiten, das Verwischen der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben werden als Nachteile reiner Homeoffice-Lösungen benannt – sowohl aus Sicht von Unternehmer- wie Arbeitnehmer*innen. Gefragt sind vor diesem Hintergrund differenzierte Remote Work-Konzepte.

 

Die junge Generation hinterfragt die Teilung von Lebenszeit

„Die junge Generation sieht die Arbeitswelt bereits völlig anders, sie hinterfragt Konzepte wie die Teilung von Lebenszeit in Freizeit und Arbeitszeit. Junge und qualifizierte Mitarbeiter*innen wissen, was sie auch remote erreichen können. Auch die Unternehmen werden umdenken, weniger Pendeln und mehr wohnortnahes, dezentrales Arbeiten ermöglichen müssen“, betont Prof. Axel Minten von der FOM Hochschule für Oekonomie und Management. Für Wirtschaft wie Politik, aber auch für den Städtebau ergibt sich dadurch die Aufgabe, dritte wohnortsnahe Arbeitsorte für unterschiedliche Funktionen – wie konzentriertes, kommunikatives und kooperatives Arbeiten – einzurichten. Dabei plädiert Minten für eine wissenschaftliche Begleitung: Über Analysen von

Pendlerströmen und Befragungen von Arbeitnehmer*innen lassen sich schon jetzt Orte, an denen Coworking-Spaces sinnvoll sind – etwa im ländlichen Raum, im Anschluss an Nahverkehrssysteme, im Speckgürtel eines Ballungsraums etc. – systematisch verorten.

Aus Arbeitnehmer*innensicht fehlen Leitplanken für Remote Work

Befragungen im Projekt CoWin ergeben, dass Firmenmitarbeiter an Remote-Arbeitsplätzen die Schaffung neuer Netzwerke, reduzierte Fahrtwege und Motivationsanreize positiv einschätzen, aber auch Verlustängste bezogen auf den Status im Betrieb, Fragen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz und zur IT-Infrastruktur vorhanden sind. Aus der Perspektive der Arbeitnehmer*innen weist Peter Stoverink von der Technologieberatungsstelle des DGB NRW e.V. darauf hin, dass Remote Work aktuell im rechtsfreien Raum stattfindet: „Für mobile Arbeit gibt es noch nirgendwo richtige Leitplanken. Für die Zukunft ist wichtig, dass sich alle Sozialpartner zum Thema Arbeits- und Gesundheitsschutz an einen Tisch setzen und Standards vereinbaren.“ Hier ist eine wissenschaftliche Begleitung angeraten: „Für Remote Work kommt es auf die Fähigkeit der Beschäftigten zur Selbstorganisation ebenso an wie auf Digitalkompetenzen und die sogenannte Virtu-Ability, also die Fähigkeit zum Remote Work, beispielsweise über neue Formate wie Videokonferenzen, Software oder auch Virtual Reality mit anderen zu interagieren“, erläutert Dr. Rüdiger Klatt, Institutsleiter FIAP e.V.. Er weist zudem auf Notwendigkeiten zur Klärung rechtlicher Rahmenvorgaben hinsichtlich Arbeitsstättenverordnung, Gefährdungsanalysen oder auch Möglichkeiten steuerlicher oder personalwirtschaftlicher Anreize hin.  

In Unternehmen sind Umsetzungsstrategien für Remote Work noch punktuell

 „Wir wissen jetzt, dass Distanzarbeiten eine zusätzliche Qualität in die Arbeitsortelandschaft bringt, die sich vor allem durch das „Ko“ – also Kooperation und Ko-Kreation – erklärt“, berichtet Dr. Klatt. Viele Unternehmen, gerade moderne, gute, wissensbasierte Unternehmen seien guten Willens, die Vorteile von Remote Work für sich und im Sinne ihrer Arbeitnehmer*innen zu nutzen. Dennoch setzen die Umsetzungsstrategien bisher auch in den ambitionierten Unternehmen eher punktuell ein. Sinnvoll wäre hier eine durchgängige Einbettung des Distanzarbeiten; angefangen vom Unternehmensleitbild, auch zum Thema der Dekarbonisierung, über die räumliche Situationsanalyse verknüpft mit Personalbefragungen über den Aufbau einer digitalen Arbeitsinfrastruktur bis hin zu Anpassungen der Raumkonzepte bei eigenen Immobilien sowie die Kompetenz-Entwicklung der Beschäftigten. Hier besteht noch enormer Entwicklungsbedarf sowohl in der Wirtschaft als auch in der wissenschaftlichen Forschung, die etwa durch einen ersten Lehrstuhl für Arbeitsmobilität in Deutschland gebündelt werden könnte.

In Verwaltungen ist Pandemie Katalysator für bereits begonnene Prozesse

Prof. Dr. Andreas Meyer-Falcke, der als Beauftragter der Landesregierung für Informationstechnik die Digitalisierung der NRW-Landesverwaltung verantwortet, zeigte auf, wie die Pandemie die Digitalisierungsprozesse vorangetrieben hat. Im Frühsommer 2021 besaßen 50.000 Verwaltungsbeschäftigte (ohne den Bereich Polizei) die technischen Voraussetzungen für die Arbeit aus dem Homeoffice. 30.000 Beschäftigte nahmen dieses Angebot regelmäßig gleichzeitig wahr. Um die 1.500 Videokonferenzen mit einem Vielfachen an Teilnehmern wurden täglich durchgeführt. Diese Erfolge waren möglich, weil sie in umfassende Reformmaßnahmen zur digitalen Transformation der Verwaltung eingebunden waren wie die Umsetzung des E-Government-Gesetzes und des Onlinezugangsgesetzes. Das Wirtschafts- und Digitalministerium war als Modellministerium bereits vor der Pandemie zu 100% mobil arbeitsfähig. Als Katalysator für die Ausweitung und zunehmende Akzeptanz des Homeoffice habe die Pandemie dennoch gewirkt. Nun seien Überlegungen zur Einrichtung verwaltungsinterner dezentraler Coworking Spaces ein weiterer Schritt. Dieser werde auch unter dem Nebenaspekt des Aufbrechens von „Ressort-Silos“ sehr positiv diskutiert.

Coworking-Spaces als Impulsgeber für Veränderung und Entwicklung 

Tobias Kollewe, Bundesverband Coworking Spaces e.V. (BVCS), plädierte dafür, auch in Großunternehmen und Verwaltungen aufgrund der interdisziplinären und innovativen Wirkung von Coworking-Angeboten vorhandene private und kommunale Coworking-Spaces stärker in Strategien für dezentrales Arbeiten einzubeziehen. Bereits jetzt stammten – auch in Folge der Pandemie – über die Hälfte der Nutzer von Coworking Spaces in Deutschland aus größeren Unternehmen. Die Qualität der Arbeitsplätze hinsichtlich Ergonomie, Arbeitsstättenverordnungen und Datenschutz seien entsprechend gestiegen. „Coworking-Spaces können außerhalb der Metropolen zudem Impulsgeber für die wirtschaftliche Entwicklung sein. Wo große Unternehmen einige Arbeitsplätze in Coworking Spaces bezahlen, ist zu beobachten, dass sich auch Kleinunternehmen ansiedeln. Für langfristig verstetigte Projekte ist jedoch auch die Politik gefordert als Impulsgeber für Förderprogramme oder Beratungsangebote,“ betont der Verbandsvorsitzende. Auch Wolfgang Jung, Geschäftsführer des Wissenschaftspark Gelsenkirchen, der mit seinem Coworking Space am CoWin-Projekt teilgenommen hatte, bestätigt die Einschätzung des Bundesverbands. „Coworking-Spaces sind derzeit leider noch keine Selbstläufer und sollten daher in einer Startphase als Element der Wirtschaftsförderung gerade in strukturschwachen oder aufstrebenden Regionen gezielt unterstützt werden.“

Ein anschauliches Beispiel für die Startup-Kultur, die in Deutschland die Entstehung der dritten Arbeitsorte vor allem vor der Pandemie lange Zeit vorangetrieben hat, präsentierte Unternehmer Sascha Kuhn zum Abschluss der Konferenz. Das Startup Availy AG will den Restart von Remote Work nach der Pandemie mit einer App befeuern, die das bundesweite Desk-Sharing für kurzfristi­ge und spontane Meetings – ob in Coworking Spaces oder temporär leerstehenden Büros – vermittelt.

Umsetzung von Remote Work muss weiter begleitet und unterstützt werden

Als Fazit der Konferenz lässt sich festhalten, dass Remote Work in Coworking Spaces, die unterschiedliche Arbeitsfunktionen – von der Konzentrationsarbeit bis zum Teammeeting – erlauben, ein zukunftsweisendes Konzept darstellt. Für eine sinnvolle städtebauliche, verkehrliche, klimapolitische, gesellschaftliche und unternehmerische Integration von Remote Work sind gute Grundlagen und Erkenntnisse vorhanden, jedoch besteht umfangreicher Forschungsbedarf in der Umsetzung. Weitere Pilot- und Modellprojekte sind erforderlich, um Fallstricke zügig abzuräumen und nach der Pandemie einen guten Restart von Remote Work an dritten Orten sicherzustellen.

 

> Förderhinweis: Das Modellprojekt „CoWin - Entwicklung und Erprobung eines ‚virtual reality‘ gestützten Coworking-Modells für Berufspendler“ (www.co-win.de) wird seit 2018 im Rahmen des Förderprogramms „Umau 21 - Smart Region, Initiative zur Digitalisierung der Emscher-Lippe-Region“ vom Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes NRW gefördert.

(Quelle: Gemeinsame Pressemeldung des FIAP e.V. und BVCS e.V. vom 24.11.2021)

Fußnoten:


[1] Corona Datenplattform (2021): Themenreport 02, Homeoffice im Verlauf der Corona-Pandemie, Ausgabe Juli 2021, Bonn, S. 4.

[2] IZT-Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (2020): Arbeiten nach Corona - Warum Homeoffice gut fürs Klima ist, S. II.

[3] Nach Bonin et al. (2021, S. 12) sollen sich im Monat Februar 2021 49 % der abhängig Beschäftigten in Deutschland teilweise und 34 % überwiegend oder ausschließlich im Homeoffice befunden haben. (Quelle: Bonin, H., U. Rinne und D. Spitza (2021), Arbeitssituation und Belastungsempfinden im Kontext der Corona-Pandemie im Mai 2021. Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von abhängig Beschäftigten, Bonn, IZA Institute of Labor Economics.

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